WILHELM  WORRINGER - ABSTRAKTION UND EINFÜHLUNG
        

Es war Wilhelms Worringers Buch "Abstraktion und Einfühlung", das den Begriff der Abstraktion in die Kunsttheorie einführte. Die Erstveröffentlichung im Jahre 1908 fiel zusammen mit dem Aufbruch der modernen Malerei in die "gegenstandslose Welt" und sorgte für die außerordentliche Resonanz, die das Buch sofort bei Georg Simmel, Ernst Bloch, Ludwig Klages, Oswald Spengler u.v.a. erfuhr. Das die Ideenwelt bis heute fortbesteht, zeigt sich in den Spuren, die es u.a. in den Arbeiten von Robert Smithson, Gilles Deleuze und Felix Guattari hinterlassen hat.

Theoretischer Teil
Abstraktion und Einfühlung

"Diese Arbeit will einen Beitrag liefern zur Ästhetik des Kunstwerks, und zwar speziell des dem Gebiete der bildenden Künste angehörigen Kunstwerkes. Damit ist ihr Gebiet kIar abgegrenzt gegen die Ästhetik des Naturschönen. Eine solche klare Abgrenzung erscheint von äußerster Wichtigkeit, obwohl die meisten ästhetischen und kunstgeschichtlichen Arbeiten, die sich mit Problemen wie den hier vorliegenden befassen, diese Abgrenzung verschmähen und die Ästhetik des Naturschönen ohne weiteres in die Ästhetik des überleiten.

Unsere Untersuchungen gehen von der Voraussetzung aus, daß das Kunstwerk als selbständiger Organismus gleichwertig neben der Natur und in seinem tiefsten innersten Wesen ohne Zusammenhang mit ihr steht, sofern man unter Natur die sichtbare Oberfläche der Dinge versteht. Das Naturschöne darf keineswegs als eine Bedingung des Kunstwerkes angesehen werden, wenn es auch im Laufe der Entwicklung zu einem wertvollen Faktor des Kunstwerkes, ja

teilweise geradezu mit ihm identisch geworden zu sein scheint.

Diese Voraussetzung schließt die Folgerung in sich, daß die spezifischen Kunstgesetze mit der Ästhetik des Naturschönen prinzipiell nichts zu tun haben. Es handelt sich also z. B. nicht darum, die Bedingungen zu analysieren, unter denen eine Landschaft schön erscheint, sondern um eine Analyse der Bedingungen, unter denen die Darstellung dieser Landschaft zum Kunstwerk wird.

Die moderne Ästhetik, die den entscheidenden Schritt vom ästhetischen Objektivismus zum ästheti­schen Subjektivismus gemacht hat, d.h., die hei ihren Untersuchungen nicht mehr von der Form des ästhetischen Objektes, sondern vom Verhalten des betrachtenden Subjekts ausgeht, gipfelt in einer Theorie, die man mit einem allgemeinen und weiten Namen als Einfühlungslehre bezeichnen kann. Eine klare und umfassende Formulierung hat diese Theorie durch Theodor Lipps gefunden. Sein ästhetisches System soll darum als pars pro toto zur Folie der folgenden Ausführungen dienen.

Denn der Grundgedanke unseres Versuches ist, zu zeigen, wie diese moderne Ästhetik, die vom Begriff der Einfühlung ausgeht, für weite Gebiete der Kunstgeschichte nicht anwendbar ist. Sie hat ihren archimedischen Punkt vielmehr nur auf einem Pol menschlichen Kunstempfindens. Zu einem umfassenden ästhetischen System wird sie sich erst dann gestalten, wenn sie sich mit den Linien, die vom entgegengesetzten Pol herkommen, vereinigt hat.

Als diesen Gegenpol betrachten wir eine Ästhetik, die, anstatt vom Einfühlungsdrang des Menschen auszugehen, vom Abstraktionsdrang des Menschen ausgeht. Wie der Einfühlungsdrang als Voraussetzung des ästhetischen Erlebens seine Befriedigung in der Schönheit des Organischen findet, so findet der Abstraktionsdrang seine Schönheit im lebenverneinenden Anorganischen, im Kristallinischen, allgemein gesprochen, in aller abstrakten Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit" [24:35f].